Grau_Liste_5: Laas Abendroth | Zeitstehlen

8. Januar bis 29. Januar 2023 | Wien Grau

Zeitstehlen von Laas Abendroth | Time Stealing by Laas Abendroth

Die wohl markanteste Eigenschaft der Zeit ist der Umstand, dass es stets eine in gewissem Sinne aktuelle und ausgezeichnete Stelle zu geben scheint, die wir die Gegenwart nennen, und die sich unaufhaltsam von der Vergangenheit in Richtung Zukunft zu bewegen scheint. Dieses Phänomen wird auch als das Fließen der Zeit bezeichnet. Dieses Fließen entzieht sich jedoch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung, wie im Folgenden dargelegt wird. Auch die Geisteswissenschaften können die Frage nicht eindeutig klären. Die Zeit dient in der Physik in analoger Weise wie der Raum zur Beschreibung des Geschehens. Die Physik besagt, dass unter allen denkbaren Strukturen im dreidimensionalen Raum in Kombination mit allen dazu denkbaren zeitlichen Abläufen nur solche beobachtet werden, die den physikalischen Gesetzen gehorchen. Diese kann man ebenso gut in einem vierdimensionalen Raum, der Raumzeit, als unbewegliche Strukturen ansehen, die durch die physikalischen Gesetze bestimmten geometrischen Bedingungen unterworfen sind. Nach Newton ist dabei die Struktur dieser Raumzeit vorgegeben, wobei die Zeit absolute Bedeutung hat; nach Albert Einstein gilt eine spezielle „Relativität der Gleichzeitigkeit“. Etwas, das man als Fließen der Zeit interpretieren könnte, kommt in der Physik nur durch wahrscheinlichkeitstheoretische Begriffe vor, die mit dem Begriff der Entropie zusammenhängen (siehe unten), obwohl die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Einsteinschen Theorien mathematisch-präzise sind und messbare Bedeutung haben. Bei genauer Betrachtung erweist es sich aber zunächst als völlig unklar, wie ein Fließen der Zeit in der Sprache der Physik oder Mathematik oder irgendeiner anderen Wissenschaft präzise beschrieben werden könnte. So ist beispielsweise die Aussage, dass die Zeit fließe, nur dann sinnvoll, wenn eine davon unterscheidbare Alternative denkbar ist. Die naheliegende Alternative der Vorstellung einer stehenden Zeit, beispielsweise, führt jedoch zu einem Widerspruch, da sie nur aus der Sicht eines zweiten Beobachters denkbar ist, für den die Zeit weiterhin verstreicht, sodass der angenommene Stillstand als solcher überhaupt wahrnehmbar ist (siehe auch Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant: „Könnte man die Zeit anhalten, für wie lange ‚stünde‘ dann die Zeit?“)
Das scheinbare Fließen der Zeit wird daher von vielen Physikern und Philosophen als ein subjektives Phänomen oder gar als Illusion angesehen. Man nimmt an, dass es sehr eng mit dem Phänomen des Bewusstseins verknüpft ist, das sich ebenso einer physikalischen Beschreibung oder gar Erklärung entzieht und dadurch zu den großen Rätseln der Naturwissenschaft und Philosophie zählt. Damit wäre unsere Erfahrung von Zeit vergleichbar mit den Qualia in der Philosophie des Bewusstseins und hätte folglich mit der Realität primär ebenso wenig zu tun wie der phänomenale Bewusstseinsinhalt bei der Wahrnehmung der Farbe Blau mit der zugehörigen Wellenlänge des Lichts.
Hinfällig wäre damit unsere intuitive Vorstellung, es gäbe eine von der eigenen Person unabhängige Instanz nach Art einer kosmischen Uhr, die bestimmt, welchen Zeitpunkt wir alle im Moment gemeinsam erleben, und die damit die Gegenwart zu einem objektiven uns alle verbindenden Jetzt macht.

Laas Abendroth

Probably the most striking property of time is the fact that there always seems to be a place that is current and excellent in a certain sense, which we call the present, and which seems to move inexorably from the past towards the future. This phenomenon is also called the flow of time. This flowing, however, eludes scientific observation, as will be explained below. Even the humanities cannot clarify the question unambiguously. In physics, time serves to describe events in an analogous way to space. Physics states that among all conceivable structures in three-dimensional space in combination with all conceivable temporal processes, only those are observed that obey the laws of physics. These can just as well be regarded as immobile structures in a four-dimensional space, the space-time, which are subjected to certain geometrical conditions by the physical laws. According to Newton, the structure of this space-time is predetermined, whereby time has absolute significance; according to Albert Einstein, a special „relativity of simultaneity“ applies. Something that could be interpreted as the flow of time occurs in physics only through probabilistic terms related to the concept of entropy (see below), although the concepts of past, present and future in Einstein’s theories are mathematically precise and have measurable meaning. On closer examination, however, it initially turns out to be completely unclear how a flow of time could be precisely described in the language of physics or mathematics or any other science. For example, the statement that time flows only makes sense if an alternative that can be distinguished from it is conceivable. The obvious alternative of the notion of stagnant time, for example, however, leads to a contradiction, since it is only conceivable from the point of view of a second observer, for whom time continues to pass, so that the assumed standstill is perceptible as such in the first place (see also Immanuel Kant’s Critique of Pure Reason: „If one could stop time, for how long would time ’stand‘?“).
The apparent flow of time is therefore considered by many physicists and philosophers to be a subjective phenomenon or even an illusion. It is assumed to be very closely linked to the phenomenon of consciousness, which also eludes physical description or even explanation and is thus one of the great mysteries of natural science and philosophy. This would make our experience of time comparable to the qualia in the philosophy of consciousness and would consequently have as little to do with reality primarily as the phenomenal content of consciousness in the perception of the colour blue with the corresponding wavelength of light.
This would invalidate our intuitive idea that there is an instance independent of our own person, like a cosmic clock, which determines which point in time we are all experiencing together at the moment, and which thus makes the present an objective now that connects us all.

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